Peter Piek, Text, kann man Farben hören? Kann man Farben hören?

Ich begebe mich nun in den virtuellen Raum, ich nenne ihn Barhocker. Es sind einige Leute hier.
Ich frage einfach jemanden. „Hey! Zwei Fragen: Wie heißen Sie?“ „Sonja E.“ „OK Sonja. Kann man Farben hören?“
„Wenn man sich Mühe gibt, bestimmt.“ (Kosmetikerin) Eine Kellnerin kommt auf mich zu. Blond. Lange gerade Beine.
„Uta S.“ steht auf einem Schild auf ihrer Brust. „Entschuldigung. Können Sie Farben hören?“ „Nein, dafür habe ich leider
keine Zeit, aber ich kann ihnen gern etwas zu trinken bringen.“ Ich gehe weiter. „Und was sagen Sie dazu?“
„Das, würde ich sagen müssen Sie einen Blinden fragen!“ (Rainer K., Optiker) Einen Blinden fragen. Eine gute Idee. Ah!
Hier sind auch noch Leute. „Was meinen Sie, kann man Farben hören?“ „Wenn man Farben fühlen kann, dann kann man sie auch hören.“
(Zorik D., Grafiker) „Und Sie?“ „Na das Blaulicht kann ich schon sehen, wenn ich nur das tatütata höre.“ (Uwe K., Krimineller)
Es ist Zeit, den Barhocker zu verlassen.

Ich gehe in einen neuen Raum. Der Raum heißt Gurkenscheibe. Man kann nicht erkennen, was für eine Art Raum es ist. Aber er ist groß
und scheint rund zu sein. Auf der Tür steht „Urpeter“. Spielzeug liegt auf dem Boden.
Ein Kind ist in dem Raum. Es spricht nicht.
„Bist du Urpeter?“ Es lacht hell. „Urpeter, kann man Farben hören?“ Er winkt mich heran.
Er lächelt, grinst mich an. Ich gehe zu ihm. Ein blauer Ball liegt neben ihm, auf den er zeigt. Ich nehme ihn. Der Ball verwandelt sich
in meiner Hand in eine Birne. Blau zu Gelb.
Ich habe Hunger. Ich esse. Ich schmecke. Es tut gut. Ich bin nicht mehr hier. Es ist dunkel. Ich sehe nichts. Langsam taucht ein Ei vor mir auf.
Es ist transparent. Ein Zettel hängt daran. Als ich nah genug dran bin lese ich das Wort „Welt“...
Da ist der Raum Barhocker. Menschen sehe ich.
Ich kann durch sie hindurch sehen. Aber ich sehe keine Organe. Stattdessen sind andere Personen in ihnen. Viele haben hunderte in sich.
Manche sind leer. Ich sehe mich. Ich sehe mich mit Leuten sprechen. Ich gehe durch eine Tür. Ich sehe Urpeter in mir.
...die Birne ist alle. Ich halte den Stiel in der Hand.
„Wohin mit dem Birnenstiel Urpeter?“
Er zeigt auf eine Tür aus Bauklötzchen.
Um zu der Bauklötzchentür zu kommen muss ich Gurkenscheibe vollständig durchqueren. Dazu brauche ich ungefähr drei Stunden.
Ich gelange in einen Korridor. Er heißt Gänsefeder.
„Mach es gut Urpeter“ rufe ich. Er winkt.
Ich erreiche einen anderen Raum. Der Raum heißt Streichholzschachtel. Das Türschild trägt den Namen „Peter Stone“.
Wir kennen uns. Er begrüßt mich. Geht an das Klavier, und fängt an zu spielen. Er spielt. Und singt:

Grün, blau, grau, kein weiß mehr
und Gelb wo ist das rot
verlogen verheuchelt zweideutig
deine Sinne sind angespannt
ruhiges Verlangen und Melancholie
schemenhaft erkennen wir die Dinge
tief weit vom halbdunkel verschluckt
was ist es eigentlich Zwielicht?

Ist es nicht schön, das Zwielicht
Ich glaube, ich liebe es
Genießer sterben wohl später
Deshalb sie länger leiden

Schwarz ist nur schön mit den Sternen
Scheinbar sensibel tasten wir uns vor
Alles ist im Zwielicht
Und ausgenutzt verborgen
Im Dunkeln lässt sich leichter zerstören
Blind sind wir dennoch nicht
Morgen sind wir alle tot
letztendlich hoffnungsvoll gewollt

Ist es nicht schön, das Zwielicht
Ich glaube, ich liebe es
Genießer sterben wohl später
Deshalb sie länger leiden
*„Zwielicht“ (Text + Musik: Peter Stone; 1998)

Peter Stone steht auf. Er geht zum Fenster und schneidet einer Pflanze Blätter und Blüten ab. Die Pflanze ist nackt.
„Peter, kann man Farben hören?“ Er zerdrückt die Blüten in seiner Hand und gibt sie mir.
Zurück in Gänsefeder. Es qualmt.
Am Ende von Gänsefeder ist Licht. Durch die Schwaden gehe ich zur nächsten Tür. Sie ist blau. Mit der Aufschrift: „Peter Piechaczyk“.
Wir kennen uns. Im Raum Schinkenregal sitzt er. Er ist zwölf Jahre alt. „Hey Peter“, sagt er zu mir. „habe gerade Essblockade überwunden,
und eine Menge zu Essen bekommen.
Pizza, Kuchen, Pasta, Kartoffelauflauf.“
Sein Zimmer ist groß. Zu beiden Seiten Fenster. Helles Tageslicht tritt ein.
Überall stehen Bilder in Stapeln an der Wand. Wichtige alte und die neuesten Bilder hängen an den Wänden. Es sind große und kleine
Bilder. Grün. Blau. Grau. Weiß und Gelb ist das Rot. Sinne sind angespannt. Ruhiges Verlangen. Melancholie. Schemenhaft erkenne ich Dinge.
Tief. Weit. Vom Halbdunkel verschluckt. Was ist es eigentlich? Schwarz ist schön mit den Sternen. Scheinbar sensibel taste ich mich vor.
Alles ist im Zwielicht. Und verborgen. Im Dunkeln lässt sich leichter malen. Blind bin ich dennoch nicht.
Peter ist satt. Er sieht mich an.
„Peter, kann man Farben hören?“ frage ich ihn. Er rülpst.
Und fängt an zu tanzen. Erst langsam, immer schneller werden seine Bewegungen. Rhythmisch stampfen seine Füße.
Er beginnt sich aufzulösen. Alles verschwommen. Ich schaue zu. Es wird klarer. Farben bewegen sich. Ich stehe still.
Ich tanze etwas mit ihm. Aber ich kann nicht gut tanzen. Mir wird schwindlig. Ich gehe. Zur Tür. Sie ist blau.
Gänsefeder hat mich wieder.
Ich gehe den Korridor entlang. Eine Tür mit der Aufschrift „Mörderpeter“ ist gut verschlossen.
Ein kleines Fenster lässt sich aufschieben. Ich sehe wie Mörderpeter einem lebenden Huhn den Kopf abbeißt.
Blut läuft aus seinen Mundwinkeln. Er bemerkt mich. Ich habe Angst. Meine Knie schlottern.
Ich stottere: „Mörderpeter, kann man Farben hören?“ „Halt‘s Maul, du Arschloch!“ schreit er. Er wirft mit unheimlicher
Kraft das Huhn nach mir. Es klatscht gegen die Tür. Blut spritzt mir ins Auge. Ich erschrecke fürchterlich,
schließe schnell das kleine Fenster und renne Gänsefeder entlang. Ein Auge tut weh.

Das Licht. Tür rechts. „Peter Sternkopf“. Die Tür ist offen also trete ich hinein. Der Raum heißt Teebeutel.
Es ist niemand da. Der Raum ist weiß gefliest und leer.
Eine Toilette befindet sich exakt in der Mitte des Raumes auf einem Sockel. Ich finde eine Rolle Klopapier.
Ich wische mir damit das Hühnerblut aus dem Auge. Auf der Rolle ist ein Text geschrieben. Ich ziehe an der Rolle und beginne zu lesen:
„Farben haben Klänge. Diese Klänge nennt man Farbton. Farbton ist neben der Helligkeit und der Sättigung eine von
drei Grundeigenschaften der Farbe. Gemeint ist die spezifische Qualität, mit der eine Farbe zum Beispiel Rot sich von
anderen - Grün, Lila, usw. - bei gleicher Helligkeit und Sättigung unterscheiden. Der Farbton hängt von der Länge der
auf das Auge wirkender Lichtwellen ab.
Hier lässt sich eine Parallele finden zum Laut: Laute mit den Grundeigenschaften Lautstärke,
Höhe des Klangs und Klangfarbe werden in ähnlicher Form charakterisiert. So ist die Klangfarbe (Timbre) die spezifische Qualität,
durch die sich Töne gleicher Höhe und Stärke auf verschiedenen Instrumenten voneinander unterscheiden.
Timbre ist die Schwingungsform einer Schallwelle die Färbung eines Tones ausdrückt, und den unterschied eines Tones in gleicher
Tonhöhe und Lautstärke - zum Beispiel auf einem Klavier und einem Saxophon gespielt - wahrnehmbar macht.
Sowohl die Klangfarbe als auch der Farbklang haben eine äußerst wichtige Funktion in der Empfindung von Farbe und Klang.
Farben können in ihrer Vielfalt Klangkombinationen ergeben. Diese Klangkombinationen sind zwar weniger konkret als
akustisch wahrgenommene Schwingungen, sind aber mit denselben Eigenschaften zu beschreiben. So kann ein aus Farbklängen
bestehendes optisches Bild dieselben Emotionen hervorrufen und dieselbe Information übermitteln wie eine akustische Musikkomposition.
Über das Mittel der Sprache gelingt es dem Menschen Textinformationen sowohl akustisch als auch optisch problemlos wahrzunehmen.
Vergleicht man beispielsweise einem in einem Buch gelesenen Text mit einem vorgesprochenem, so ist die Qualität der
Informationsübertragung in beiden Fällen bei guter Funktionalität des Übergabemediums sehr hoch.“

Ich bin Peter Sternkopf. Ich bin 27 Jahre alt. Ich höre Schritte in Gänsefeder. Peter Stone läuft vorbei. Lichtkegel.
Ende. Peter Stone im Licht. Peter Stone verschwunden.
Peter Piechaczyk läuft vorbei. Lichtkegel. Ende. Peter Piechaczyk im Licht. Peter Piechaczyk verschwunden.
ICH laufe. Lichtkegel. Ich im Licht. Es war schwarz bei Urpeter. Hier ist es weiß. Licht. Licht. Licht.
Ich mache die Augen auf und
höre.

Peter Piek / Michael Goller
Chemnitz, 24. bis 29.02.2004
erschienen 2005 in der Ausgabe Werkstatt Wort der HGB Leipzig (Hochschule für Grafik und Buchkunst) mit einer Einleitung von Prof. Dr. Tuercke